Radegundis Stolze schreibt, dass der Schriftsteller oder Dichter in seinem literarischen Werk seine subjektive Weltsicht darstellt, die durch seine Kultur geprägt ist (vgl. Stolze, 1992:219). „Er vermittelt dem Leser neue Einsichten über die reale Welt und die menschliche Existenzerfahrung“ (Stolze, 1992:219 f.).
Stolze bezieht sich auf Gadamer, wenn sie den literarischen Text mit einem Kunstwerk gleichsetzt und ihn deshalb als ein Spiel ansieht. Wie ein Kunstwerk fordert ein literarischer Text dazu auf, mitzuspielen und sich dabei der Bedeutung des Textes klar zu werden. Dabei kann jedoch jeder etwas anderes in den Text hineininterpretieren (vgl. Stolze, 1992:222 f.). Aus diesem Vergleich folgert sie, dass Literatur, wie eben die Kunst, zweckfrei entsteht (228).
Christiane Nord hinterfragt, ob Literatur tatsächlich zweckfrei ist und kommt zu dem Schluss, dass zumindest literarische Übersetzungen niemals zweckfrei sein können, da sie, selbst wenn der Ausgangstext keine Intention enthält, an ein bestimmtes Publikum gerichtet sind und somit (mindestens) eine Funktion für die Zielsprachenleser haben müssen (vgl. Nord, 1997:83). Somit hat selbst die Übersetzung eines literarischen Werkes, das um seiner selbst willen geschrieben wurde und somit keine Intention enthält, eine Funktion, z. B. den Autor und seinen Schreibstil in der Zielsprachenkultur bekannt zu machen. Existiert jedoch eine Autorintention, muss der Literaturübersetzer, bezogen auf das Prinzip der Loyalität, versuchen, die formalen und inhaltlichen Merkmale des Autors mit den zielsprachlichen Mitteln umzusetzen (vgl. Fischer, 2006:149).
Stolze schreibt zur literarischen Übersetzung, dass ein literarisches Werk so übersetzt werden muss, dass es in der Zielsprache wie ein Original wirkt (vgl. Stolze, 1992:226). „Die Aufgabe der Übersetzer besteht also pragmatisch darin, das Unbestimmte, Offene, Polyvalente im Originaltext für die Deutungserfahrung des Lesers der Übersetzung zu bewahren“ (Stolze, 1992:226). Dabei handelt es sich allerdings nur um die Darstellung einer nachgestalteten Erfahrung, da der Autor des Originals seine persönlichen Erfahrungen in sein literarisches Werk einbringt (vgl. Stolze, 1992:226). Das Problem der literarischen Übersetzung besteht nun darin, dass die Übersetzer oftmals Textstellen, die ihnen zu abstrakt sind, vereinfachen und ihre persönlichen Interpretationen mit sachlichen und klaren Worten ausdrücken, sodass es wie ein distanzierter Bericht klingt und kein persönliches Ergriffensein mehr zu erkennen ist (228).
Valentín García Yebra stellt jedoch fest, dass es für einen literarischen Übersetzer unmöglich ist, die Intention des Ausgangstextautors vollständig zu verstehen, v. a. wenn er nur Muttersprachler der Zielsprache ist. Deshalb kann dieser auch nur das übersetzen, was er selbst verstanden hat. Daraus kann ihm kein Vorwurf gemacht werden, da noch nicht mal ein Leser die gesamte Autorintention eines literarischen Werkes in seiner eigenen Sprache verstehen kann (vgl. García Yebra, 1981:11).
Quellen:
Fischer, Martin, (2006), Konrad und Gurkenkönig jenseits der Pyrenäen. Christine Nöstlinger auf Spanisch und Katalanisch, Frankfurt am Main, Peter Lang GmbH
García Yebra, Valentín, (1981), „Ideas sobre la traducción y problemas de la traducción literaria”, in: Equivalences, 12/1981, 1-13
Nord, Christiane, (1997), Translating as a purposeful activity, Manchester: St. Jerome Publishing
Stolze, Radegundis, (1992), Hermeneutisches Übersetzen, Tübingen, Gunter Narr Verlag