Übersetzer streben es – nicht nur bei literarischen Übersetzungen – an, dass das übersetzte Werk sich in der Zielsprache genauso anfühlt und genauso wirkt, wie das Original in der Ausgangssprache. Gleichzeitig geht in jede Übersetzung auch ein Stück des Übersetzers mit ein – außerdem hat der Zeitgeist einen gewissen Einfluss auf Übersetzungen. So kommt es vor, dass Neuübersetzungen von Werken angefertigt werden.
Ziele von Neuübersetzungen
Neuauflagen bereits angefertigter Übersetzungen wären für Verlage günstiger als eine Neuübersetzung, schließlich liegt der Text schon vor. Trotzdem werden regelmäßig neue, aktualisierte Übersetzungen von literarischen Werken beauftragt – welche Motive gibt es dafür?
Neue Übersetzungen werden aus unterschiedlichen Gründen angefertigt. Häufig wird als Grund genannt, dass Übersetzer heute treuer am Original arbeiten würden, die Übersetzung daher vermeintlich genauer ist. Erstübersetzungen seien vor allem dazu geeignet, Leser mit der Materie, dem Thema, der Kultur des Textes bekannt zu machen – Feinheiten könnten dem Publikum erst bei Neuübersetzungen zugänglich gemacht werden.
Ein anderer Grund für eine neue Übersetzung kann sein, dass die frühere Übersetzung schlecht gealtert scheint: Sprache verändert sich, möglicherweise ist die Übersetzung nicht mehr gut verständlich? Auch Rechtschreibreformen oder Ähnliches können dazu führen, dass nicht nur eine Aktualisierung der Schreibung, sondern gleich des ganzen Textes ratsam scheint. Dazu gehören ganz aktuell auch Neuübersetzungen von Werken, bei denen die sprachliche Ausdrucksweise der Übersetzung nicht (mehr) genehm ist – vielleicht gar als abwertend oder beleidigend empfunden wird.
Pippi Langstrumpfs Vater: Südseekönig?
Ein populäres Beispiel ist der „Beruf“, den Pippi Langstrumpfs Vater Efraim Langstrumpf in Astrid Lindgrens Werk „Pippi in Taka-Tuka-Land“ ausübt: Er ist im schwedischen Original „negerkung“ – das wurde in der deutschen Übersetzung zu „Negerkönig“. Was in den 1940er Jahren nicht nur in Skandinavien ein üblicher Begriff – wenn vielleicht auch nicht wertfrei – war, ist heute nicht mehr angebracht. Seit 2009 ist Efraim Langstrumpf in der deutschen Übersetzung darum „Südseekönig“.
Allerdings gefällt nicht allen Langstumpf-Fans diese Neuübersetzung – und auch unter Literaturkritikern sind Ersetzungen wie diese umstritten: Gerade in Kinderbüchern könnten Anmerkungen (die es ohnehin bei älteren Werken in neuer Auflage häufig gibt) dabei helfen, solche Sachverhalte zu verstehen und sich kritisch mit Begriffen auseinanderzusetzen. Das kann auch für Werke gelten, in denen Wörter vorkommen, die man heute nicht mehr kennt oder nutzt.
Schließlich werden auch Schreibmaschinen nicht zwingend durch Laptops oder Tablets ersetzt, Telefonzellen nicht durch Smartphones oder Kutschen durch Autos.
Große Übersetzungen: Niemals Erstübersetzungen?
Neuübersetzungen finden aber nicht nur bei Kinderbüchern statt, sondern auch andere literarische Werke werden von Zeit zu Zeit neu übersetzt, um danach besser zu sein: besser verständlich, besser lesbar, besser verkäuflich. Der französische Literaturkritiker Antoine Berman ging sogar so weit, dass er die Hypothese aufstellte, dass wahrhaft große Übersetzungen niemals Erstübersetzungen seien. In der Tat: Viele „große“ oder bekannte Übersetzungen sind keine Erstübersetzungen. Noch immer gilt beispielsweise Schlegels Shakespeare-Übersetzung (ab 1789) als eine große Übersetzung – und die Werke, die er übersetzt hat, hat er nicht als erster übersetzt – und nicht als letzter.
Neuübersetzungen mit Erstübersetzungen zu vergleichen, ist aber in vielen Fällen schwierig – Neuübersetzzungen generell als „besser“ und „originalgetreuer“ zu bezeichnen, ist definitiv ungerecht. Schließlich leisten Übersetzer auch und besonders bei einer Erstübersetzung Pionierarbeit. Was sie aber nicht in ihre Arbeit aufnehmen können, ist die Rezeption des Werks im Kulturraum der Zielsprache – schließlich wird es erst noch gelesen und besprochen werden. Eine Erstübersetzung deswegen aber grundsätzlich als weniger gelungen oder tiefsinnig zu bezeichnen, würde der gewissenhaften Arbeit vieler hervorragender Literaturübersetzer nicht gerecht.
Neuübersetzungen erkennen
Neue Übersetzungen sind teils als solche gekennzeichnet – aber dies ist nicht immer der Fall. Teils finden bei Neuauflagen Änderungen zur ursprünglichen Übersetzung statt, mal wird nur der Werktitel geändert, mal nur Teile des Werks. Manchmal ist der Neuübersetzer auch die Person, die die Erstübersetzung eines Werks angefertigt hat – so beispielsweise bei „Der kleine Hobbit“ von J.R.R. Tolkien, den Walter Scherf 1957 aus dem Englischen übersetzte und seine eigene Übersetzung 1971 überarbeitete.
Vielleicht ist es aber für den durchschnittlichen Leser gar nicht wichtig zu wissen, ob eine Übersetzung eine Neuübersetzung oder eine Erstübersetzung ist? Viel wichtiger ist es doch, dass eine gute Übersetzung vorliegt. Bei der Bewertung helfen können Preise, die für gelungene Übersetzungen verliehen werden, dazu gehört beispielsweise der Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse. Letztlich sind es aber oft auch individuelle Aspekte, die dafür sorgen, dass eine Übersetzung „besser“ oder „getreuer“ als eine andere genannt wird – die gleiche Stelle kann beim einen Leser in Übersetzung A stärker wirken und wird gleichzeitig von einem anderen Leser in Übersetzung B, C oder D bevorzugt.
Quellen:
Eva Bergschneider (2019): „Der Herr der Ringe – Drei Übersetzungen aus der Sicht eines langjährigen Fans“, unter https://www.hobbitpresse.de/2019/02/21/der-herr-der-ringe-drei-uebersetzungen-aus-der-sicht-eines-langjaehrigen-fans/.
Antoine Berman: „La retraduction comme espace de la traduction” in Palimpsestes. Revue de traduction (1990): 1-7, unter https://journals.openedition.org/palimpsestes/596.
Lissa Tiittula: „Finnische Neuübersetzungen deutschsprachiger Literatur“ in trans-kom 6 [1] (2013): 140-170.
Elisabeth Magdalena Wallner (2016): „Wie der ‚Negerkönig’ zum ‚Südseekönig‘ wurde“.